Es ist spät am Abend des 24. Dezembers. Schon etwas müde macht sich die Familie Forster für die Christmette fertig. Der Schnee rieselt leise vom Himmel, als würde er dem bekannten Weihnachtslied alle Ehre machen wollen. Werner trinkt schnell noch den Rest kalten Kaffees, besser gesagt er möchte, findet aber „momentan“ seine Tasse nicht, genauso wenig wie die Brille und den Autoschlüssel. Die so durch das Suchen verlorene Zeit lässt sich, ohne besondere Mühe, an Werners vernachlässigtem Kleidungsstil an diesem besonderen Abend ablesen. Na gut, zugegeben, der Zeitverlust war’s nicht ;-). Seine ihm vor Jahrzehnten Angetraute, nicht zu verwechseln mit „Angegraute“;-), wirft währenddessen noch einmal prüfend einen Blick in den Spiegel. Die beiden erwachsenen Töchter Sarah und Hannah warten bereits im perfekten Outfit im Wohnzimmer, wo Hannah ihre treue Assistenzhündin Ellie sanft hinter den Ohren krault.
"Eigentlich wären wir jetzt auf dem Weg nach Wendelstein", seufzt Reny wehmütig. "Pfarrer Kneißl versteht es einfach, die Christmette zu etwas ganz Besonderem zu machen."
"Mama, sei nicht so pessimistisch", erwidert Sarah aufmunternd. "Der neue indische Pfarrer wird bestimmt auch sehr interessant sein…", was an dieser Stelle verdächtig nach einer Vorahnung klingt.
Dann macht man sich endlich auf den Weg. Werner schreitet draußen ein unförmiges Herz in den frischen Schnee vor der Haustür, so wie er es immer macht, bevor er von seiner… , na, man weiß ja von wem, unangemessen zur Eile gemahnt wird. Eigentlich will er ja noch einen durchbohrenden Pfeil dazutrippeln, aber schon hört Werner das Rumpeln des Garagentores, was als Aufforderung gedacht ist, na, man weiß ja von wem, ins Auto zu steigen.
Als die zwei- und vierbeinigen Forsters nach kurzer Dauer und perfektem Einparken dank Werners Fahrkünste unbeschadet ankommen und das ohne zumindest eines kleinen Lobes, na, man weiß ja von wem nicht…, jetzt reicht‘s aber, oder?
Z e i t s p r u n g. Die Hofkirche in Neumarkt erstrahlt im warmen Schein unzähliger Kerzen, was dem Gotteshaus eine gebührende Festlichkeit verleiht. Ellie, Hannahs Hündin für alle Fälle, verhält sich wie immer vorbildlich und liegt augenblicklich, nach einer einstudierten Kopfbewegung von Hannah, diskret unter der Kirchenbank. In der Zwischenzeit füllt sich die Kirche zusehends und allmählich ist auch eine erwartungsvolle Atmosphäre förmlich greifbar.
Ruhe breitet sich aus, das Gemurmel und Flüstern verebbt. „Bimbimbim“ - ein dürres Glockenläuten schreckt ein paar Kirchgänger verstört auf, andere wiederum starren gebannt auf die Sakristeitür hinter dem Altar, aus der Pater Rajesh Kumar das Kirchenschiff betritt. Mit seinem freundlichen Lächeln und dem leichten Wippen in seinen Bewegungen erinnerte er ein wenig an einen aufgeregten Schuljungen bei seiner ersten Theateraufführung.
"Namaste und einen gesegneten Abend", beginnt er mit deutlich hörbarem indischen Akzent.“Das Kirchenvolk erhebt unbeirrt, in stoischer Gewohnheit, die Stimme: „Und mit deinem Geiste.“ "Heute ich werde predigen, wie man das macht in Deutschland – anhand von deutschen Weihnachtsliedern" verrät der Pater schon mal in sichtlicher, indischer Vorfreude.
Werner und Reny schauen sich kurz fragend an, sie wissen nicht, was sie von der Vorankündigung halten sollen. ‚Hoffentlich artet das nicht in ein sinnloses Brimborium aus‘, ruft Werner lautlos sein inneres, untrügliches Wissen ab. Nahestehende, also durchaus die eigene Familie, tun dieses oft lächelnd allerhöchstens als Halbwissen ab, was ein Möchtegerngenie schon mal kränken kann. Mit Seitenblick auf Sarah fällt auf, dass diese bereits jetzt schon versucht, einen Lachanfall zu unterdrücken. Hannah streicht Ellie beruhigend über den Kopf, als würde selbst der Hund die Besonderheit der Situation spüren, was wahrscheinlich sogar stimmt. Nur Reny greift professionell, in Erwartung eines liturgischen Liedes als Gotteslob, zum Gotteslob (Anmerkung für Unbedarfte: Das ist das katholische Gebet- und Gesangsbuch).
"Vom Himmel hoch, da komm ich her!", rappt der sympathische Pater Rajesh plötzlich in Form eines weihnachtlichen Singsangs. `Scheinbar ahnt er nicht, sinniert Werner‘s innere Stimme, dass die heilige Messe nicht nur aus Gesangspredigt besteht, vielleicht wurde das aber bei einer indischen Synode so beschlossen‘. Da ist es wieder, dieses trügerische Halbwissen! „Ja, genau so kam Jesus! Wie mit Fallschirm vom Himmel", gestikuliert der Priester wild mit den Händen, um eine Fallschirmlandung zu simulieren.
Einige Gemeindemitglieder rutschen unruhig auf ihren Plätzen hin und her. Sarah muss ihr Gesicht unter dem Mantelkragen verstecken, während ihre Schultern verdächtig zucken.
"Und dann", fuhr der Pater fort, "Stille Nacht, heilige Nacht! Aber warum still? In Indien wir feiern laut! Aber okay, deutsches Baby Jesus mag es still." Er legt seinen Zeigefinger an die Lippen und macht "Schhhh!", mit der anderen Hand schnippt er leise drei Takte und wiederholt dann das Ganze. Musiker können mit dieser Beschreibung bestimmt etwas anfangen, wenn nicht, sind sie keine…, ok, nicht so wichtig. Mittlerweile ist der Geräuschpegel in der Kirche gestiegen, das Kichern und Tuscheln nicht mehr zu überhören. Werner muss sich gar nicht zusammenreißen, um ernst zu bleiben. Im Gegenteil, er würde sich zusammenreißen müssen, wenn er lachen wollte, oder lachen sollte.
"Kling, Glöckchen, klingelingeling!", geht’s beim Pater unvermittelt mit Sprechgesang und nicht ganz treffsicherer Stimme weiter. "Macht marketing für Jesus, marketing für king!“ Sangespause, mit schweifendem Blick in die Kirchengemeinde und wackelndem Kopf: „Sehr clever, dieser vorfahrende deutsche Reime-Erfinder Karl Enslin! Klingelingeling eingebaut in Gedicht für Weihnachtslied, Klingeling also im Geldbeutel, aha.“
Hannah beugt sich bedeutungsschwanger zu ihrer Schwester: "Ich glaube, das wird die unvergesslichste Christmette unseres Lebens."
Schon erhebt Rajesh Kumar, der indische Priester, erneut die Stimme und erhält sofort die volle Aufmerksamkeit der bis zu diesem Zeitpunkt noch zutiefst Gläubigen. "Es ist ein Ros entsprungen - Ich sehr verwirrt", gesteht er der Gemeinde. "Warum ist Pferd entsprungen? Wo ist es hingelaufen? Aber dann ich habe verstanden - ist keine Pferd, ist kleiner Ast, hab` in Heilige Schrift nachgelesen: `Doch aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht`. “Reis wieder falsch! Wieso Ast und nicht Essen? Neinnein, deutsche Sprache, schwere Sprache!"
Jetzt entgleisen selbst Reny die weihnachtsfestlichen Gesichtszüge. Hinter ihr, vor ihr, neben ihr sowieso, da sitzt ja der Rest der Familie, wiehert man lachend wie ein imaginäres Pferd, von dem vorher die Rede war. Auch der Ausdruck „Frohe Weihnacht“ bekommt im Gotteshaus, im wahrsten Sinn des Wortes, eine besondere Note. Ellie, Hannahs Hündin mit der Lizenz zum Helfen, lugt unter der Kirchenbank hervor. Mit schiefgelegtem Kopf, hochgezogenen Schlappohren und schwanzwedelnd verfolgt sie die ausladenden und fuchtelnden Bewegungen des indischen MenschleinHirten. "Und dann dieses 'Heitschi Bumbeitschi'", fährt dieser fort, während er versucht, das Wort besonders deutlich auszusprechen. "Klingt wie indisches Mantra! Vielleicht alte Deutsche und Inder doch verwandt, indogermanisch sozusagen, wie Wissenschaft uns sagen will.“
Die Predigt geht noch eine kleine Ewigkeit so weiter, in der Tat eine wilde Mischung, aus tiefsinnigen theologischen Betrachtungen, in der Untat aus unfreiwilliger Komik. Der Pater analysiert unter anderem "O Tannenbaum" als Metapher für Beständigkeit im Glauben, das Waldsterben hat er dabei scheinbar vergessen. "Leise rieselt der Schnee" interpretiert er als Symbol für die sanfte, aber unaufhaltsame Ausbreitung der christlichen Botschaft. Die Erderwärmung und das Schmelzen des Schnees hat er, bewusst oder unbewusst, nicht erwähnt. Dann ist er plötzlich und völlig unerwartet auch schon am Ende seiner Ausführungen und spendet den Schlusssegen: „Lokah Samastah Sukhino Bhavantu“ – Werner flüstert leise: „Mögen alle Wesen in allen Welten glücklich sein“ – da war es wieder…, man weiß schon was. Das weihnachtstrunkene Neumarkter Volk beschließt die gegenseitige Segnungszeremonie wie man es ihm beigebracht hat mit: „Dank sei Gott dem Herrn.“
Die Forsters verlassen zwei- und vierbeinig das Gotteshaus - mit vielen weiteren fröhlichen Weihnachtswesen, wie es im Schlussmantra angeklungen ist - und fahren heim. Sie haben zwar nicht die gewohnt feierliche und wunderbare Christmette von Pfarrer Kneißl in Wendelstein erlebt…, was sofort nach einem „aber“ schreit, hier ist es… aber der indische Geistliche Pater Rajesh Kumar hat durch seine unkonventionelle, offene Art wahre „Fröhliche Weihnacht“ in die Neumarkter Hofkirche gezaubert. Das Wort „Zauberei“ will übrigens gar nicht so recht über die Tastatur in die Geschichte einfließen, weil es absolut unkatholisch ist. Wir befinden uns im Text jedoch bereits außerhalb der geheiligten Zone, also nicht so schlimm.
"Wisst ihr…", sagt Werner, während er den Wagen durch die verschneiten Straßen lenkt…, Reny weiß und ergänzt lächelnd: „Du hast dich schon so auf die Auslegung von ‚Süßer die Glocken nie klingen‘ gefreut.“ „Bingo“ sagt Werner, „Schatz, wir lassen den nächsten Termin für die Paartherapie sausen;-).“
Daheim angekommen, rieselt immer noch leise der Schnee, ganz wie im bekannten Weihnachtslied, oder wie es der Pater so anschaulich beschrieben hat: „Wie himmlische Konfetti für Jesuskind-Party!“
Endlich in der warmen Stube, auch Wohnküche genannt, hat Reny zur späten Stunde noch nicht genug und stimmt unter dem Christbaum ein altes, indogermanisches Weihnachtslied an: „Ihr Inderlein kommet…“ „Ihr Kinderlein kommet, Kinderlein,“ murmelt Werner leise. Da war es wieder, das berühmt berüchtigte Halbwissen, denn richtigerweise singt man so: „Ihr Kinderlein und Enkelkinderlein kommet“, Anno Domini 2024 im Hause Forster in Holzheim.
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