Es war einer dieser bezaubernden Dezemberabende in Nürnberg, als der Schnee sanft vom Himmel rieselte, so wie es in einem alten Weihnachtslied vom evangelischen Pfarrer Eduard Ebel (1839-1905) getextet wurde. Der Duft von Lebkuchen, gebrannten Mandeln und Glühwein wehte durch die engen, reich bestückten Budengassen des Christkindlesmarktes. Warum ich die Angaben über „Leise rieselt der Schnee“ so genau recherchiert habe, ist dem hohen Anspruch der vorliegenden Geschichte und ihrer Protagonisten geschuldet.
Beim Schönen Brunnen, diesem architektonischen Juwel am Hauptmarkt, sollte sich an diesem Abend eine höchst ungewöhnliche Runde zusammenfinden.
Siggi, der aus Österreich kommend auf einer Vortragsreise war und während der Adventszeit auch Nürnberg beehrte, lehnte am historischen Brunnen und betrachtete nachdenklich das bunte Menschentreiben (was mich wiederum an ein Gedicht von Rainer Maria Rilke, 1875-1926, erinnert: Es treibt der Wind im Winterwalde, die Flockenherde wie ein Hirt, …, ok, das reicht hier erst mal). "Interessant, wie der Weihnachtsrummel die tiefsten Sehnsüchte der Menschen widerspiegelt", murmelte Siggi in seinen Bart.
Da gesellte sich Maha zu ihm, ein indischer Weihnachtsmarktbesucher, in seinen weißen Dhoti gehüllt, was im winterlichen Nürnberg durchaus Aufsehen erregte. Beide kannten sich weitläufig. "Namaste, mein Freund! Welch friedvolle Atmosphäre hier!"
"Servus Maha! Welch‘ Überraschung!", begrüßte ihn Siggi herzlich. "Lass uns doch einen Glühwein trinken – zur psychoanalytischen Aufarbeitung der Rechtfertigung des in Kürze bevorstehenden Weihnachtsfestes sozusagen."
Kaum hatten sie ihre dampfenden Becher in der Hand, gesellte sich Hans dazu und der im Schlepptau befindliche italienischstämmige Gali, die beide noch von der gerade besichtigten Sebalduskirche schwärmten. Siggi und Maha waren für Hans und Gali nicht mehr das „unbekannte Ich und ÜberIch“, Scherzle g‘macht ;-), sie waren sich bereits auf dem Rundgang durch die lichterfüllten, rotweißen Budengassen auf dem Christkindlesmarkt begegnet und hatten dort schon ein wenig miteinander geplauscht. Werner, der als zuständiger Techniker bei der Stadt Nürnberg auch für die Weihnachtsbeleuchtung zuständig war, vervollständigte mit einer Tasse heißen Apfelpunsch in Händen die illustere Runde.
"Prost, ihr Wahrheitssuchenden!", rief Gali enthusiastisch und hob seinen Becher.
Schon nach dem zweiten Glühwein, oder war’s der vierte, äh dritte (?), begann die Diskussion über den wahren Sinn von Weihnachten lebhafter zu werden.
Siggi, dessen Wangen bereits leicht gerötet waren, lehnte sich vor: "Wisst ihr, Weihnachten ist eigentlich nur die kollektive Verarbeitung kindlicher Wunscherfüllung. Der Weihnachtsmann in Amerika, der Nikolaus gar hier in Bayern ist dabei... ähm... wartet... ja, eine Vaterfigur!" „Uno Momento - und Knecht Rupprecht (?)“ internierte Gali. „Vermutlich das mütterliche, unausgelebte ÜberIch.“
Maha nippte bedächtig an seinem Glühwein: "Nein, nein, Siggi. Weihnachten ist wie... wie... das Sehnen der Seele nach Licht. Genau wie beim Beten. Ach Gott, was bete ich eigentlich gerade für einen Schmarrn?" Den Ausdruck hatte der Inder von Glorias Weihnachtsmarkt in Regensburg aufgeschnappt.
Hans, dessen Glühwein etwas zu schnell Zuspruch fand, versuchte sich einzumischen: "Die Wahrheit liegt in den Sternen! Der Stern von Bethlehem war übrigens eine seltene Planetenkonstellation... oder war das der Halleysche Komet? Die Liebe zur Wahrheit wird es schon richten!"
Gali schwenkte gefährlich leichtsinnig seinen Becher: "Amore mio! Alle Wahrheiten sind doch so einfach... wenn man sie einmal gefunden hat. Hab ich eigentlich schon erwähnt, dass sich die Erde um die Sonne dreht? Oder war das doch anders herum?"
Werner beobachtete im wahrsten Sinn des Wortes nüchtern, nichts desto weniger hintersinnig, das Geschehen mit einem amüsierten Lächeln: "Mit Licht kann man nicht zaubern, aber ihr zaubert gerade ganz schön mit eurer ‚zwinkerzwinker‘ vordergründigen Logik, wenn ihr noch versteht, was ich meine!"
Siggi versuchte sich wieder zu sammeln: "Also, wie ich sagte... oder wollte ich sagen... niemand kann zum Glauben an den Weihnachtsmann gezwungen werden, geschweige denn an den Nikolaus. Das ist wie mit der Psychoanalyse, glaubhaft oder nicht, eben nur anders – oder so ähnlich…"
Maha wiegte sich sanft im Takt der fernöstlichen Weihnachtsmusik (die sonst so gewohnte englisch/deutsche Berieselung wäre wegen der absurd gestiegenen GEMA-Gebühren viel zu teuer gewesen, es sollte ja was hängen bleiben, bei all dem Aufwand von Goldglanz und Glitzereffekt auf dem so traditionellen Weihnachtsmarkt): "Das Sehnen der Seele... ja... aber wonach sehnen wir uns als Seele eigentlich, kann ich mich, beziehungsweise kann sich meine Seele überhaupt sehnen? Bin ich Seele – sind wir nicht alle Seelen, ein Herz und…, genug gesehnt, ich glaube, ich brauche noch einen Glühwein zur Meditation."
"Nein, nein!", unterbrach Hans, "es geht um die Liebe zur Wahrheit! Diese Liebe zur ungelogenen Wahrheit macht das Wunder aus! Schaut euch nur diese zarten Schneeflocken, die übrigens alle sechseckig sind... oder sind sie fünfeckige Sterne… oder kugelige sinnlos schmelzende Dinger?"
Gali nickte heftig: "Ja, ja, die Wahrheit! Wenn man sie erst einmal verstanden hat... können oder wollen wir sie überhaupt verstehen, versteht ihr mich überhaupt? Apropos Überhaupt – ein solches wäre hier gar nicht schlecht, dann könnte man den Christkindlesmarkt hier, wörtlich genommen, besser überblicken.“
Werner seufzte und nahm einen Schluck Apfelpunsch: "Ihr bringt da einiges durcheinander, meine adventlichen Freunde. Aber es ist kurzweilig unterhaltsam euch zuzuhören und dabei doch durchaus nicht zuzustimmen - und wenn’s nur aus Eigensinn ist."
Die verschneite Frauenkirche im Hintergrund strahlte festlich im warmen Licht der Anleuchtung, was Werner ein Lächeln ins Gesicht zauberte.
Siggi versuchte einen letzten analytischen Ansatz: "Das Unbewusste... ja, das Unbewusste spielt hier eine große Rolle. Oder war es das Vorbewusste,… äh,… oder sagt man nur das Bewusste? Maha, hilf mir mal!"
Maha hatte mittlerweile seinen Dhoti wie einen Schal um den Hals gewickelt: "Das Sehnen... das Beten... alles eins! Der Glühwein und ein kleiner Schwips, die universelle Liebe, das liebe Universelle, nein, Universum, alles eins, richtig Hans?"
Hans starrte fasziniert zu den Sternen: "Seht ihr die geometrischen Muster? Die Harmonie des Kosmos? Schaut nur die Sternenbilder, der Wasserbock, der Steinmann, …der Glühwein ist heuer wirklich besonders gelungen, findet ihr nicht? Werner – halt dich da raus, du hast bleifrei!"
"Eppur si muove!", murmelte Gali, dann etwas lauter: und sie bewegt sich doch, die Erde meine ich, oder bin ich es, der sich bewegt? Mein Gott, mir wird schwindlig“
Werner schüttelte lächelnd den Kopf: "Wisst ihr was? Vielleicht ist Weihnachten einfach ein Fest, das uns alle verbindet – ob wir nun an Wissenschaft, Spiritualität oder Psychoanalyse glauben."
Die anderen vier schauten ihn erstaunt an, für einen Moment in klarer Erkenntnis und kurzeitig scheinbar nüchtern vereint.
"Da könnte sogar was dran sein", sinnierte Siggi.
"Om Shanti", seufzte Maha friedlich.
"Die einfachste Erklärung...", begann Gali…
"...ist oft die beste!", vollendete Hans.
Als sich der Abend und der Glühwein dem Ende zuneigte und die letzten Tropfen genüsslich, aber etwas unbeholfen den Bechern abgenötigt waren, verabschiedeten sich die vier Trinkkumpane und Werner voneinander. Jeder hatte auf seine Weise hier auf dem Nürnberger Christkindlesmarkt versucht, das Weihnachtsfest zu ergründen, und vielleicht lag gerade in dieser Vielfalt der Perspektiven die wahre Bedeutung des Festes.
Manchmal braucht es einfach einen, im wahrsten Sinn des Wortes, nüchternen Blick von außen, in dieser Geschichte also von Werner;-), um zu erkennen, dass die Wahrheit viele Gesichter hat – und dass es völlig in Ordnung ist, wenn nicht jeder das Gleiche im weihnachtlichen, aus welchen Gründen auch immer, oft übertriebenen Lichterzauber sieht.
Werner behielt übrigens Recht: Mit Licht kann man tatsächlich nicht zaubern - es bräuchtet auch keinerlei Zauberei, um besondere Momente zu schaffen (wie viele andere seltsamen Sprüche hätte Werner noch von sich geben können und welche scheinbare Erkenntnisse hätten dann daraus resultiert… Gott bewahre, das möge gegebenenfalls Grundlage einer anderen Geschichte sein). Ach ja, besondere Momente: Am besten (k)ein bisschen Glühwein, gute Gesellschaft und zum Beispiel die magische Atmosphäre des Nürnberger Christkindlesmarktes reichen dafür völlig aus.
Irgendeine Kirche in Nürnberg: St. Lorenz, St. Sebald, die Frauenkirche, oder war`s die schnuckelige St. Klara…, um die Geschichte jetzt kurz zu machen - egal, läutete ein letztes Mal, als sich die ungewöhnliche Gesellschaft trennte, jeder seiner Wege ging und nur noch Fußspuren im frischen Schnee von dieser besonderen Begegnung zeugten.
Was Weihnachten aber tatsächlich ist, ergründe jeder für sich selbst.
Womöglich geschieht fast alles im Kopf, in der Imagination, …oder doch im Bauch: zuckerfreie Plätzchen, Tofubraten und so;-)?
Viel Freude jedenfalls beim Philosophieren, Erschöpfen, ich meinte natürlich Erschaffen – und: Vergesst die Liebe nicht!
Mitwirkende: Siggi: Siegmund Freud, Begründer der Psychoanalyse 1856 - 1939, Österreich. Maha: Mahatma Gandhi, Rechtsanwalt u. Morallehrer 1869 - 1948, Indien. Hans: Johannes Keppler, Astronom1571 - 1630, Deutschland. Gali: Galileo Galilei, Universalgelehrter 1564 - 1642, Italien. Werner: Werner Forster, Straßenbeleuchter 1960 - lebt noch, Deutschland.
Weihnachten ist immer.
Du, ich, wir sind das Licht. Erwache.
Reib Dir die Augen für den Blick, der fantastische Wirklichkeit erschafft.
Du bist der, auf den Du so sehnlich gewartet hast.
Erwarte Dich nicht länger, sei.
Frohe Weihnacht – ja, Weihnachten ist immer
Werner Forster, TeilzeitPoet. Nicht zu verwechseln mit TeilzeitProlet ;-)
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